Wir haben bisher mit Würfeln, Urnen, Glücksrädern etc. nur einfache Modelle der Wahrscheinlichkeitsrechnung kennengelernt. Wir können aber auch Zusammenhänge in der Medizin, den Gesellschaftswissenschaften oder der Wirtschaft mit den Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung untersuchen. In diesen Bereichen spricht man nicht von Zufallsversuchen und Ergebnissen, sondern von Merkmalen und Ausprägungen.
In diesem Beitrag wollen wir lernen, wie sich Merkmale und Ausprägungen übersichtlich darstellen lassen.
Häufig werden Eigenschaften von Versuchspersonen untersucht, deren mögliche Ergebnisse bereits vorher bekannt sind, bei einer bestimmten Versuchsperson jedoch nicht vorhergesagt werden können. Wir haben ein klassischen Zufallsexperiment, ähnlich einem Glücksspiel.
Die untersuchten Eigenschaften werden häufig mit dem Begriff Merkmal bezeichnet. Die möglichen Ergebnisse nennt man in diesem Kontext Ausprägungen.
Beispiel
Ein Merkmal von Versuchspersonen kann die Blutgruppe sein.
Mögliche Ausprägungen sind die Blutgruppen A, B, AB, 0.
Innerhalb einer Stichprobe von Menschen gibt es Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten der jeweiligen Ausprägung.
Dokumentation
Wir wollen uns immer aussagekräftige aber knappe Begriffe für unsere Merkmale im Heft notieren. Ebenso für die möglichen Ausprägungen:
- Merkmal: Blutgruppe
- Ausprägungen: A, B, AB, 0
Diese Begriffe dienen als Überschriften für unsere Baumdiagramme und Vierfeldertafeln (siehe weiter unten).
„Testen, Testen, Testen” empfiehlt das Bundesministerium für Gesundheit. Darunter versteht man einen sogenannten PCR-Test, der eine akute Erkrankung an COVID-19 nachweisen kann. Der PCR-Test ist auch deshalb so wichtig, weil die Erkrankung bei vielen Personen ohne Symptome verlaufen kann.
Sehr wichtig ist aber auch ein Test auf Antikörper, mit dem nachgewiesen werden kann, ob eine Versuchsperson die COVID-19 Erkrankung bereits überstanden hat und somit eine Immunität gegen eine weitere Ansteckung vorliegt.
Sensitivität, Spezifität, Prävalenz
Medizinische Testverfahren müssen sehr genau geprüft werden, denn es gibt immer mögliche Fehlerquellen. Das Testergebnis könnte ein falsch positives Resultat erzielen und eine Immunität suggerieren, die gar nicht vorhanden ist. Oder es könnte ein falsch negatives Resultat entstehen, das eine Immunität nicht erkennt, obwohl sie vorhanden ist.
Angaben über die Zuverlässigkeit von Tests machen zwei Parameter:
Wir betrachten in dieser Aufgabe den Test Euroimmun IgA ELISA, der eine Sensitivität von 90% und eine Spezifität von 93% aufweist.
Im Falle von COVID-19 ist die Prävalenz für Deutschland noch weitgehend unbekannt.
In dieser Aufgabe wollen wir mit Daten aus Island arbeiten, wo (im Mai 2020) eine Prävalenz von 0,84% gemessen wurde (Quelle: Ein sehr lesenswerter Artikel in Quarks.de tippe auf „und jetzt?”, um direkt zu der Prävalenz zu kommen). Wir gehen davon aus, dass alle Personen nach der Erkrankung eine Immunität aufweisen. Es ist noch nicht völlig geklärt, ob diese Annahme zu trifft. Wir gehen ferner davon aus, dass alle Erkrankten wieder genesen sind.
Merkmale des Antikörpertests
Wir stellen zwei Merkmale fest, die leicht verwechselt werden können. Deshalb müssen sie sorgfältig dokumentiert werden:
- Merkmal 1: Testergebnis mit den Ausprägungen Pos. und Neg.
- Merkmal 2: Immunität mit den Ausprägungen \bold{Imm.} und \bold{\overline{Imm.}}
Wir kürzen die Ausprägungen sinnvoll ab, damit wir sie übersichtlich in unseren Baumdiagrammen darstellen können. Alternative Abkürzungen sind denkbar.
Wir können Baumdiagramm immer auf zwei verschiedene Weisen aufstellen, indem wir die Reihenfolge der Merkmale vertauschen. In unserem Beispiel könnten wir erst das Testergebnis und dann die Immunität darstellen oder umgekehrt. Wir entscheiden uns für eine dieser Darstellungen, indem wir analysieren, welche Angaben in der Aufgabe vorliegen.
Um den Baum aufzustellen und zu beschriften, benötigen wir die Wahrscheinlichkeiten für eines der Merkmale. Unsere Aufgabe gibt uns die Prävalenz vor und wir gehen davon aus, dass die Prävalenz ein Maß für die Immunität in der Bevölkerung darstellt. Somit können wir das Merkmal Immunität als erste Stufe im Baum verwenden.
Tipp: Gib im Baumdiagramm die Wahrscheinlichkeiten nicht als Prozentzahl sondern als Dezimalzahl an, gerundet auf 4 gültige Stellen hinter dem Komma. In der Antwort verwenden wir Prozentzahlen, gerundet auf eine Stelle hinter dem Komma.
Das Merkmal Testergebnis können wir nicht als erste Stufe verwenden. Denn wir kennen nicht die Wahrscheinlichkeit für ein positives Ergebnis aller Versuchspersonen, sondern nur die Wahrscheinlichkeit für Versuchspersonen die bekanntermaßen immun sind.
Die Sensitivität und die Spezifität sind Pfadwahrscheinlichkeiten in der zweiten Stufe mit dem Testergebnis.
Auf der rechten Seite sind die Wahrscheinlichkeiten für das gleichzeitige Eintreffen von z.B. Imm. ∩ Pos. Das Symbol ∩ bedeutet UND.
Die Wahrscheinlichkeiten auf der rechten Seite sind hingegen identisch mit dem anderen Baumdiagramm. Beachte jedoch, dass die Wahrscheinlichkeiten in der Mitte ihre Position getauscht haben.
P(Pos.) = P(Imm. \cap Pos.) + P(\overline{Imm.} \cap Pos.)= 0,07697 ‚
P(Neg.) = P(Imm. \cap Neg.) + P(\overline{Imm.} \cap Neg.)= 0,9230
Interpretation: Bei negativem Testergebnis können wir eine Immunität mit 99,9% Sicherheit ausschließen. Bei positivem Testergebnis liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Immuntät nur bei 9,8%. Für eine sichere Aussage muss der Test wiederholt werden.
Interpretation
Der Antikörpertest ist gut geeignet, um eine vergangene Infektion auszuschließen, denn es lässt sich mit großer Sicherheit das Vorhandensein einer Immunität ausschließen.
Weniger gut eignet sich der Test um eine Immunität nachzuweisen. Bei einem positiven Resultat des Tests liegt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Immunität besteht nur bei knapp unter 10%. Das bedeutet, aus einem einzelnen positiven Testergebnis lässt sich überhaupt kein Rückschluss ziehen.
Der Grund dafür liegt in der niedrigen Prävalenz: Die Wahrscheinlichkeit für ein fehlerhaftes Testresultat ist wesentlich größer, als die Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein der Immunität.
Die Vierfeldertafel ist eine häufig genutzte Form, die Wahrscheinlichkeiten für zwei Merkmale mit jeweils zwei Ausprägungen darzustellen. Tatsächlich hat die Vierfeldertafel wesentlich mehr als vier Felder, im Zentrum sind jedoch 2 · 2 = 4 Felder, die die Wahrscheinlichkeiten der vier möglichen Kombinationen zeigen. In den Randfeldern werden Summen über die Zeilen oder Spalten der 4 Felder gebildet.
Kontrolle: Ganz unten rechts steht im Rahmen der Rundung immer die 1.
Falls es mehr als zwei Ausprägungen gibt, werden Mehrfeldertafeln eingesetzt.
Rechts unten muss als Kontrolle immer 1 herauskommen.
- Notiere die wichtigen Parameter der Aufgabenstellung und zeichne die beiden Baumdiagramme ins Heft. Rechne die Wahrscheinlichkeiten selbsttätig nach. Übertrage auch die Vierfeldertafel in dein Heft.
- Der Test Euroimmun IgG ELISA prüft auf einen anderen Antikörper. Er weist eine Spezifität von 96% bei einer Sensitivität von nur 65% auf. Untersuche die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Immunität bei positivem Testresultat. Nimm dazu die gleiche Prävalenz von 0,84% an wie im Beispiel. Dokumentiere deine Rechnungen.
- Eine Versuchsperson bekommt ein positives Testresultat mit dem Euroimmun IgA ELISA aus dem Beispiel. Wir können daraus schließen, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Immunität bei dieser Person nicht mehr bei 0,84% liegt, sondern auf 9,82% angewachsen ist. Der Test wird mit unveränderter Sensitivität und Spezifität wiederholt. Untersuche die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Immunität bei positivem Resultat. Gehe diesmal von einer Prävalenz von 9,82% aus. Dokumentiere deine Rechnungen.
Vielen Dank an Rebekka für die schöne Lösung.
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